Würde, als umfassende Wertschätzung aufgefasst, kommt jedem Lebewesen, jedem Organismus zu. Diese Wertschätzung ergibt sich aus der Wichtigkeit der Rolle, die jedes Wesen in unserer Welt spielt. Jeder Organismus, jede Pflanze, jedes Tier, jede Bakterie usw. spielt im Gesamten unseres Planeten seine Rolle und trägt zum Ganzen des Lebens bei. Kein noch so kleines Glied darf darin fehlen. Unser Leben beruht auf der Vernetzung aller. Der Ausfall eines auch noch so kleinen Teils dieses grossen Netzwerks beeinträchtigt das Ganze des Lebens.

Der Mensch ist ein sehr mächtiges Glied dieses Netzwerks. Er kann dank seiner umfassenden Wahrnehmung und Bewusstheit auf das Ganze grossen Einfluss nehmen. Kein anderes Lebewesen kann so über seine Instinkte und evolutionäre Programmierungen hinauswachsen wie der Mensch. Kein anderes Lebewesen ist so frei. Kein anderes Lebewesen kann sich so hinterfragen, über sich selber nachdenken, sich und seine Umwelt begreifen und darüber nachdenken. Niemand kann seine Umwelt dermassen nach seinen Bedürfnissen gestalten. Tiere und Pflanzen finden entweder ihnen dienende Voraussetzungen, oder eben nicht. So tauchen sie am entsprechenden Ort auf oder nicht. Oder sie passen sich im Rahmen der Evolution an. Der Mensch kann sich Bedingungen schaffen, die sein Überleben sichern und erleichtern. Er ist auf keine bestimmte Nahrung angewiesen, er ist da sehr vielfältig. Er kann Wälder roden, Wüsten bewässern, Ackerbau betreiben, nach Öl bohren, Industrien aufziehen, er kann forschen, entwickeln, handeln, bauen, regieren, verwalten, philosophieren, Sinn finden, Grenzen erkennen. Er kann bewusst ruhen, bewusst Abstand nehmen. All das hat er in relativ kurzer Zeit im Rahmen der Evolution geschafft. Er hat sich so aufgerichtet, dass er einen grossen Überblick bekommen hat über seine Welt. Der Mensch ist nicht nur Teil der Natur, sondern auch Schöpfer einer Kultur.

Jedes Glied der Natur schöpft seine Würde daraus, dass es sinnvoll eingebettet ist in das grosse Ganze des Lebens, dieses Planeten, ja des ganzen Universums. Dadurch, dass der Mensch auch ein kulturelles Wesen ist, bewusst sein kann, hat er besondere Würde. Sie ergibt sich aus seiner Macht. Das ist aber nur ein Teil davon.

Seine besondere Würde besteht auch darin, dass er die Dynamik des Segens, die ihn umgibt, erkennen kann. Er kann dieser Segensdynamik dank seiner Freiheit in seinem Leben Raum geben, indem er sie wahrnimmt, bestaunt, sich ihr anvertraut. Denn das ist die Rückseite seines Bewusstseins: Er muss den Segen erkennen und anerkennen, um ganz Mensch zu sein. Denn der Mensch ist erst dann vollkommen, wenn er auch diese Dimension in seinem Leben anerkennt und lebt, wenn er sich willentlich mit dem Ganzen, dem sinnvollen Ganzen, verbindet. Ein Tier oder eine Pflanze kann sich nicht dafür entscheiden, ob sie ins Ganze eingebettet sein will oder nicht. Sie ist es einfach.

Der Mensch muss sich bewusst dafür entscheiden. Er muss den Blick für den tiefen Sinn, der ihn umgibt schärfen. Er muss in seiner Kultur die Bewusstheit entwickeln für das tiefe eingebettet sein ins Universum. Das fällt ihm schwer. Denn tobt ein lauter «Kampf um die Kultur». Viele Fragen beschäftigen uns nämlich: Wohin wollen wir unsere Gemeinschaft steuern? Wie schaffen wir Gerechtigkeit? Wie schaffen wir Frieden? Wie wollen wir überhaupt leben? Wie sollen wir uns um unsere Lebensgrundlagen kümmern? Bezieht sich lohnenswert nur auf Ökonomie?

Alle diese kulturellen Fragen betreffen immer auch unsere Würde und die Würde der Natur, in der wir leben.

Würde ohne Beziehung gibt es nicht. Ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze alles hat zwar seine Würde, aber unsere Beziehungslosigkeit entzieht ihnen diese. Die Pflanzenvielfalt einer Wiese ist Nahrungsgrundlage für das Vieh, das darauf grast. Wenn nun dieses Vieh möglichst rentabel sein muss (also möglichst viel Milch geben oder möglichst schnell zur Schlachtreife heranwachsen muss) dann wird die Wiese zur ökonomischen Ware «Futter» und das Vieh zur industriellen Ware. Der ganze Segen der Natur, das verblüffende Geschehen um Wachsen und Gedeihen, um Fortpflanzung und Keimung, wird ausgeblendet. Alles wird zur banalen ökonomisch messbaren Selbstverständlichkeit. Futter, Milch, Fleisch wird lediglich produziert. Die Wiese, die Kuh sind Produktionsmittel. So sind sie zwar im ökonomischen Sinn durchaus eingebettet, haben messbaren Wert, sind aber würdelos. Die Beziehung entscheidet über ihre Würde oder Entwürdigung.

Würde verträgt keine Bewertung in besser oder schlechter, oder nützlich und schädlich.

Würde menschlich Tragen, bedeutet also, auch die Würde dessen zu sehen, was sich ausserhalb von uns befindet: Andere Menschen, Tiere, Pflanzen, Bäume, Gewässer, Berge, Wüsten, Landschaften, aber auch Kunstwerke, Musik, Literatur, Wissenschaft… Beziehung also zu Natur und Kultur. Menschliche Würde Tragen heisst: In Beziehung treten. Das Gegenüber wahrnehmen, sehen, hören und angemessen, würdig reagieren.

Würde Tragen bedeutet aber auch, sich seiner selbst bewusst zu werden, wahrzunehmen, wie wir über die Würde anderer entscheiden können. Das heisst, sich der eigenen Verantwortung für Würde zu stellen und sie zu tragen. Je mehr uns das gelingt, desto würdiger werden wir selber.

Wir haben es selber in der Hand, wie würdevoll unser Leben ist. Je tiefer wir uns mit der uns umgebenden Dynamik des Segens verbinden, desto würdevoller wird unser Leben. Wertschätzung zeugt Wertschätzung.

 

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